Coenonympha tullia (Großes Wiesenvögelchen) (Müller, 1764)

Verbreitung in Deutschland: Coenonympha tullia besitzt innerhalb Deutschlands zwei Verbreitungsschwerpunkte. Einmal tritt die Art in den ausgedehnten Moorgebieten Norddeutschlands (v. a. Niedersachsen, lokal auch Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg) auf, zum anderen existieren Vorkommen im Alpenvorland und in den südlichen Mittelgebirgen (Bayern, Baden-Württemberg). Daneben bestehen noch aktuelle Nachweise aus Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. In Bayern existieren noch zusammenhängende Vorkommen im Alpenvorland (Reinhardt et al. 2020). Außerhalb Niedersachsens (gefährdet) ist C. tullia zumindest stark gefährdet, in vielen Bundesländern (Sachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg) jedoch mittlerweile akut vom Aussterben bedroht (Settele et al. 2005). Bundesweit gilt die Art als stark gefährdet (Reinhardt & Bolz 2011).

Verbreitung in Baden-Württemberg: Auch in Baden-Württemberg besaß das Große Wiesenvögelchen ehemals zwei eindeutige Verbreitungsschwerpunkte. Es besiedelte die oberschwäbischen Feuchtgebiete (v. a. Allgäu) sowie den südlichen Schwarzwald. Daneben existierten kleinere, isolierte Vorkommen im Baar-Wutach-Gebiet (Pfohren, Blumberg-Zollhaus), im Nordschwarzwald (Kleines Enztal) und im Vorderen Odenwald (Ebert & Rennwald 1991b). C. tullia hat innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte extreme Bestandseinbußen erlitten, sodass die oberschwäbischen Populationen mit Ausnahme eines 2011 im Federseebecken entdeckten Vorkommens aktuell als ausgestorben angesehen werden müssen. Dies ist umso überraschender, da in dieser Region die größte Nachweisdichte existierte. Ebenfalls als ausgestorben müssen die Populationen im nördlichen Schwarzwald und im Vorderen Odenwald angesehen werden. Im Baar-Wutach-Gebiet konnten zwei Populationen von C. tullia wiederbestätigt werden. Diese Populationen existieren also noch, jedoch auf niedrigem Niveau. Einzig im Südschwarzwald sind sonst noch neuere Nachweise bekannt. Die Art ist auch im angrenzenden Bayern vor allem nahe der baden-württembergischen Landesgrenze stark rückläufig (G. Hermann, mündl.). Über die genauen Gründe für diese extreme Arealregression ist bisher noch wenig bekannt, vielleicht spielt die zunehmende Nutzungsaufgabe und Verbrachung der Niedermoor-Standorte eine wichtige Rolle. Möglicherweise sind aber auch großflächige Arealregressionen in Mitteleuropa im Gange, die beispielsweise mit klimatischen Veränderungen oder atmosphärischen Nährstoffeinträgen einhergehen könnten.

Habitatansprüche: C. tullia besiedelt extensiv genutzte Nieder- und Übergangsmoore. Möglicherweise dienen auch an Wollgras reiche Hochmoore als Larvalhabitate. Die Raupe scheint jedenfalls bevorzugt an Wollgras-Arten (Eriophorum spp.) zu fressen (Ebert & Rennwald 1991b). Wichtige Strukturparameter sind eine lückige Vegetationsdecke, das Vorhandensein einer Moosschicht und eine gewisse Grundfeuchte des Bodens. Am Federsee tritt das Große Wiesenvögelchen vor allem in derartig strukturierten Übergangsmoorbereichen auf und erreicht dabei lokal höhere Dichten. Wichtig ist dabei, dass die Flächen zwar nass, aber noch mähbar und nicht dauerhaft überstaut sind. Selbst die sehr feuchtigkeitstolerante C. tullia ist nicht in der Lage einen längerfristigen Überstau ihrer Habitate zu überleben (Joy & Pullin 1996).

Gefährdung/Schutz: RL BW: Vom Aussterben bedroht (Ebert et al. 2005). Die dramatischen und schwer erklärbaren Bestandseinbrüche der Art in Oberschwaben lassen auch C. tullia als in Baden-Württemberg vom Aussterben bedroht erscheinen. Es besteht die Gefahr, dass die Art aus Baden-Württemberg verschwindet bevor die exakten Lebensraumansprüche des Großen Wiesenvögelchens aufgeklärt sind. Der Rückgang von Nieder-, Übergangs- und Hochmooren durch Entwässerung und Intensivierung kann das Aussterben der Art ebenso nur teilweise erklären wie die Nutzungsaufgabe von Niedermooren. Bis zur Aufklärung der Lebensraumansprüche der Art sollten großflächig extensiv genutzte Moorstandorte erhalten werden, um dann noch entsprechend eingreifen zu können.

Eignung als Indikatorart: C. tullia könnte als Indikator intakter Nieder-, Zwischen- und Hochmoore dienen.

Bestimmung: Das Große Wiesenvögelchen kann vor allem mit dem Rotbraunen Wiesenvögelchen (Coenonympha glycerion) verwechselt werden. Von diesem unterscheidet es sich durch die weniger ausgeprägte weiße Binde auf der Hinterflügel-Unterseite, die zudem bereits an der Vorderkante beginnt. Außerdem fehlt der Art die metallische Randbinde. Da C. tullia sehr variabel in der Zeichnung ist, sollten Nachweise aufgrund der Seltenheit der Art möglichst mittels Fotobeleg abgesichert werden.

Quellen für diese Seite:

Ebert, G. & E. Rennwald (Hrsg.) (1991b): Die Schmetterlinge Baden-Württembergs. Band 2, Tagfalter 2. Ulmer-Verlag (Stuttgart), 535 S.

Ebert, G., Hofmann, A., Meineke, J.-U., Steiner, A., R. trusch (2005): Rote Liste der Schmetterlinge (Macrolepidoptera) Baden-Württembergs (3. Fassung). In: Ebert, G. (Hrsg.): Die Schmetterlinge Baden-Württembergs. Band 10, Ergänzungsband. Ulmer-Verlag (Stuttgart), 110-133.

Joy, J. & A. S. Pullin (1996): The effects of flooding on the survival and behaviour of overwintering large heath butterfly Coenonympha tullia larvae. - Biological Conservation 82 (1): 61-66.

Reinhardt, R. & R. Bolz (2011): Rote Liste und Gesamtartenliste der Tagfalter (Rhopalocera) (Lepidoptera: Papilionoidea et Hesperioidea) Deutschlands. In: Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands - Band 3: Wirbellose Tiere (Teil 1). -  Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (3), 167-194.

Reinhardt R., Harpke A., Caspari, S., Dolek, M., Kühn, E., Musche, M., Trusch, R., Wiemers, M. & J. Settele (Hrsg.) (2020): Verbreitungsatlas der Tagfalter und Widderchen Deutschlands. - Ulmer Verlag (Stuttgart), 428 S.

Settele, J., Steiner, R., Reinhardt, R. & R. Feldmann (2005): Schmetterlinge - Die Tagfalter Deutschlands. Ulmer Verlag (Stuttgart), 256 S.

 

Großes Wiesenvögelchen (Coenonympha tullia) an Sumpf-Blutauge saugend im Baar-Wutach-Gebiet (Pfohren), Juni 2010.

 

Nektarsaugendes Männchen von C. tullia im Baar-Wutach-Gebiet (NSG Zollhausried), Mai 2011.

 

Frisches Weibchen von C. tullia aus dem Baar-Wutach-Gebiet (NSG Zollhausried), Mai 2011.

 

Habitat von C. tullia im Baar-Wutach-Gebiet (NSG Zollhausried), wollgrasreiche Niedermoorfläche.

 

Habitat im Baar-Wutach-Gebiet (Pfohren): Niedermoor-Brachen mit Wollgras umgeben von Kulturland.

 

Habitat des Großen Wiesenvögelchens am Federsee; wollgrasreiche Übergangsmoorbereiche.

 

Schematische Verbreitung von C. tullia in Baden-Württemberg:

Dunkelblauer Bereich: Belegte Vorkommen

Grauer Bereich: Ehemalige Vorkommen (letztes Nachweisdatum)

Schwarze Punkte: Eigene Nachweise Stand 2022

Hipparchia fagi, Hipparchia semele, Brintesia circe, Chazara briseis, Arethusana arethusa, Coenonympha pamphilus, Coenonympha arcania, Coenonympha glycerion, Coenonympha hero, Coenonympha tullia, Aphantopus hyperantus, Maniola jurtina, Pyronia tithonus, Pararge aegeria, Lasiommata megera, Lasiommata maera, Lasiommata petropolitana, Erebia aethiops, Erebia ligea, Erebia medusa, Erebia meolans, Minois dryas, Melanargia galathea, Lopinga achine                                                   

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